Tag der Deutschen Einheit

Eine Deutschlandflagge gibt es in Wulpes und Reinhards Wohnung nicht. So behilft man sich eben.

Eigentlich haben weder Wulpe noch Reinhard Lust rauszugehen. Der Tag hatte vielversprechend begonnen. Die Sonne hatte ihre Strahlen über die hohen Linden zu den oberen Etagen des Gründerzeithauses geschickt, in dem Wulpe und Reinhard wohnen. Durch die Blätter der Linden, die noch gar nicht herbstlich bunt, sondern immer noch spätsommerlich grün waren, kam ein angenehm milchiges Licht an, das die beiden sehr genossen. Sie ließen sich durch diese besondere Stimmung hinaus zum Bäcker treiben, um ihre Frühstücksbrötchen zu holen. Auf dem Rückweg hielten sie einen Schwatz mit ihrem Nachbarn von der anderen Straßenseite. Er sieht die Welt immer etwas anders. Die beiden stimmten ihm zu.

Doch ab der Mittagszeit änderte sich das Wetter. Wolken zogen auf. Regen war angekündigt ab Spätnachmittag. Wind kam auf. Ein Wetter für die Couch, beschlossen beide, und jeder ging seiner Feiertagnachmittagzuhausebleibenbeschäftigung nach. Wulpe las ein Buch, das er schon seit Jahren zu lesen vorgehabt hatte. Reinhard bearbeitete einen Gummiknochen, den er schon seit Wochen vorgehabt hatte anzukauen.

Ein schöner, friedlicher Tag der Einheit. Die Politprominenz feierte unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der Hamburger Elbphilharmonie. Der Westen war immer noch reicher als der Osten. Die Mauer in den Köpfen schien wieder ein paar Zentimeter höher zu sein. In drei ostdeutschen Bundesländern stand eine rechtsradikale Partei kurz vor der Machtübernahme. Nur noch ein Drittel der Ostdeutschen konnte der Demokratie etwas abgewinnen. Eine traurige Bilanz von 33 Jahren vertaner Chancen, nicht beschrittener Wege, getriebenen Weiterwurstelns. Alternative Pfade war niemand bereit einzuschlagen: Politiker, die eine andere Art der Einheit wollten, waren längst weg vom Fenster.

Wulpe freute sich über die Inbrunst, mit der Reinhard auf seinem Gummiknochen kaute. Für ihn gibt es nur den Moment. Einen Moment, den auch Wulpe genießt.

Vielleicht würden beide später doch noch nach draußen gehen. Nach dem Regen.

Veröffentlicht von Wulpe

Mathias hat das aufgeschrieben. Er kennt Wulpe und Reinhard. Die beiden wohnen im selben Haus wie er. Meistens tauschen sie nur ein paar Sätze aus. Häufig im Vorbeigehen am Briefkasten. Aber zwischen den dreien hat sich eine kleine Erzählgemeinschaft gebildet. Wulpe geht viel spazieren. Meistens rund um den Schäfersee in Berlin-Reinickendorf. Und sein Beagle Reinhard ist dabei.

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